Haep: „Jetzt die Defizite in den Kernfächern in den Blick nehmen“

Dr. Christopher Haep

Dr. Christopher Haep, Leiter der Abteilung Schule und Hochschule im Erzbistum Hamburg, trägt Verantwortung für die katholischen Schulen in der Hansestadt – mit mehr als 7.000 Schülerinnen und Schülern sowie 850 Beschäftigten. Im Umgang mit den bestehenden Leistungsdefiziten aus der Coronazeit sieht Haep eine besondere Herausforderung für das begonnene neue Schuljahr. Wie können Kompetenzverluste ausgeglichen und nachhaltige Bildungserfolge ermöglicht werden? Nachgefragt bei Dr. Christopher Haep:

„Wie wird im neuen Schuljahr mit den Leistungsdefiziten aus der Coronazeit umgegangen?

Diese Schuljahr wird kein normales Schuljahr werden. Es wird ein anstrengendes und herausforderndes Jahr sein. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir mit dem Aufholen von Corona-Defiziten nicht nur ein paar Wochen oder ein paar Monate, auch nicht nur dieses Schuljahr, sondern längere Zeit – sicherlich zwei, drei Schuljahre – zu tun haben werden. Die Identifikation von Defiziten im kognitiven, im sozialen und emotionalen Bereich und die Begleitung von Schülerinnen und Schülern beim Aufholen der Defizite muss jetzt absolute Priorität genießen.

Zunächst gilt es, die Defizite in den Kernfächern in den Blick zu nehmen, Deutsch und Mathematik, aber auch die Fremdsprachen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Grundschulen und auf die ersten Jahrgänge der weiterführenden Schulen. Der Blick auf die Grundschulen ist besonders wichtig, weil Kompetenzverluste sich hier am Nachhaltigsten auf den weiteren Bildungsweg auswirken werden. Auch wenn verständlicherweise die Forderung groß ist, andere Fächer wie Kunst, Sport, Religion, Musik, die in der Corona-Zeit eher auf der Strecke geblieben sind, jetzt verstärkt in den Blick zu nehmen, müssen wir zunächst den Kernfachbereich stärken: Sprachliche und mathematische Defizite schlagen durch auf andere Fächer. Wer nicht richtig lesen kann, wird nicht nur in Deutsch erhebliche Probleme bekommen.

Darüber hinaus ist entscheidend, nicht nur das auswendig lernbare Wissen in den Blick zu nehmen, sondern die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler im Bereich der Selbstorganisation, des eigenständigen Lernens, des Beherrschens von Methoden, des interdisziplinären, also fächerübergreifenden Lernens. Also alles Bereiche, die das grundlegende Rüstzeug für nachhaltige Bildungserfolge bilden. Wenn hier in der Corona-Zeit Fähigkeiten nicht erworben oder hinreichend ausdifferenziert wurden, fällt das eventuell zunächst weniger oder erst später auf. Deshalb gilt es, diesen Bereichen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Mir wird immer wieder gesagt, mit dem Lernstoff sei man doch im letzten Schuljahr sehr gut durchgekommen, manchmal sogar im digitalisierten Unterricht besser als im herkömmlichen Unterricht. Das mag auf den ersten Blick stimmen. Die Frage ist aber, ob das erlernte Wissen, die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten tatsächlich nachhaltig abgesichert sind. Die guten bis sehr guten Leistungsbewertungen an unseren Schulen, insbesondere den weiterführenden Schulen im letzten Schuljahr sollten uns da nicht in trügerischer Sicherheit wiegen. Es kommt auf pädagogisch nachhaltige Wirksamkeit an. Deswegen bin ich gegenüber Lernprogrammen in Schulferien, wenn sie nicht sehr fokussiert auf die individuellen Bedarfe der einzelnen Schülerinnen und Schüler zugeschnitten sind, wenn sie nicht durch pädagogisch qualifizierte Fachkräfte durchgeführt und mit dem Unterricht eng verzahnt werden, sehr kritisch eingestellt. Wir sollten weniger auf additive Formate setzen, Aufholprogramme in den Unterricht integrieren oder zumindest eng mit ihm verzahnen. Dazu ist in den Schulen und in den multiprofessionell arbeitenden Teams ein hoher Abstimmungsbedarf erforderlich.

Eine Erwartung, die ebenfalls an mich herangetragen wird, und zwar zu Recht, ist, dass zur Unterstützung des sozialen und emotionalen Lernens, zum Erkennen und Begleiten von sozialen und emotionalen Belastungen aus der Corona-Zeit mehr Schulpsychologen, Sozialpädagogen usw. zum Einsatz kommen müssten. Das ist absolut richtig, und da werden Schulen und Schulträger auch investieren und erfinderisch sein. Wichtig ist, dass kein Bereich, kognitive Defizite, Defizite im sozial-emotionalen Bereich gegen den anderen ausgespielt wird, sondern wir alles in den Blick nehmen, alles ausbalanciert angehen.

Aus all diesen Gründen werden wir jetzt zunächst in drei Gebieten tätig sein: Erstens gilt es, Expertise aufzubauen, durch Fortbildungen, durch Auswertung von wissenschaftlichen Studien zur Corona-Zeit, durch Gespräche mit Experten, Kinderpsychiatern, Kinderärzten, Bildungswissenschaftlern, durch Zusammentragen und Bewertung der Erkenntnisse in den multiprofessionellen Teams der Schulen. Zweitens geht es darum, unsere Fähigkeiten im Bereich der Diagnostik, der Evaluation von Defiziten auszubauen, auszudifferenzieren, zur Anwendung zu bringen. Drittens geht es darum, auf diesen Grundlagen für die kommenden zwei, drei Schuljahre gute pädagogische, eher nicht-additive Konzepte zu entwickeln und anzuwenden, ihre Wirkung immer wieder auszuwerten und nachzujustieren.

Dies alles haben wir in Angriff genommen, dies alles gilt es, in den nächsten Wochen und Monaten konsequent weiter zu verfolgen.“

Bild: Dr. Christopher Haep (Foto: C. Haake)