„Ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl“

„Ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl“ - Wilhelm Simonsohn

Hundertjähriger im Gespräch mit Neuntklässlern der Katholischen Schule Altona. Wilhelm Simonsohn ist 100 Jahre alt. Und ein lebendiges Geschichtsbuch. Mit eindringlichen, oft auch humorvollen Erzählungen hat sich der gebürtige Altonaer auf den Weg gemacht, seine Lebens- und Kriegserfahrungen an junge Menschen weiterzugeben. Und die Neuntklässler der Katholischen Schule Altona sitzen Simonsohn an diesem Vormittag fast ehrfürchtig gegenüber.

„Ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl“ - Wilhelm Simonsohn

Konzentriert hören die Jugendlichen dem alten Mann zu, fragen nach – und versuchen zu verstehen. Doch die Welten und Lebenserfahrungen, die im Musikraum der Katholischen Schule Altona an diesem Tag aufeinandertreffen, könnten unterschiedlicher kaum sein. Auf der einen Seite der betagte Zeitzeuge, der als Zweijähriger von einer jüdischen Familie adoptiert wurde, die Naziherrschaft hautnah miterlebte und dessen Vater letztlich den Folgen seiner Deportation erlag. Und auf der anderen Seite Schülerinnen und Schüler, die in Frieden, Demokratie und einem geeinten Europa aufwachsen können – und kriegerische Auseinandersetzungen nur aus den Nachrichten kennen.

„Ich war einfach nur enttäuscht“, erinnert sich Simonsohn an die erste Begegnung mit den Nationalsozialisten. Anfang 1930 nahm er als Zehnjähriger heimlich an einer Wahlversammlung der NSDAP auf der Großen Freiheit teil, „um mal einen echten Prinzen zu sehen“. Denn als Wahlredner war Prinz August Wilhelm von Preußen angekündigt. Doch der erwartete Adlige war nur ein SA-Mann, ohne Krone und Zepter, der auch noch im Berliner Dialekt redete.

„Meine hanseatischen Ohren waren eine andere Aussprache gewöhnt. Ich war einfach nur maßlos enttäuscht“, erklärt Simonsohn, dessen Vater ihn später für seinen Ausflug zuhause den Hintern versohlte. „Doch er hatte sicherlich psychisch größere Schmerzen als ich körperlich“, so der gebürtige Altonaer. 1935 erfuhr der Sohn, dass sein Vater Jude war – und damit aus Sicht der Nationalsozialisten ein Feind des deutschen Volkes. Mit dem Boykott des väterlichen Kohlehandels konnte die Familie das Schulgeld für „Bubi“ – wie Simonsohn wegen seiner schmächtigen Gestalt genannt wurde – nicht mehr aufbringen. „Wir mussten umziehen, ich musste das Gymnasium verlassen und verlor alle meine Freunde“, blickt Simonsohn zurück.

“Sie haben Papa schließlich abgeholt und ins Konzentrationslager Oranienburg deportiert“, erinnert er sich an das Telegramm seiner Mutter, das ihn später als Rekrut bei den Seefliegern in Schleswig erreichte. Denn der Sohn galt auf dem Papier nicht als Jude und wurde mit 18 Jahren Luftwaffenpilot. Seine Aufgabe: Englische Bomber abzufangen und sie am Abwurf der tödlichen Ladung zu hindern. Nach der Rückkehr des Vaters aus der Haft habe er einen völlig veränderten Menschen erlebt: aufgedunsen, kurzgeschoren, seelisch gebrochen.

„Mein Vater hat kein einziges Wort über seine Behandlung im Konzentrationslager verloren“, erinnert sich der Hundertjährige und ergänzt: „Ich habe das nie wieder so erlebt, dass sich ein Mensch sozusagen über Nacht so grundlegend verändert. Er war verschlossen, introvertiert – und ist daran letztlich ein Jahr später gestorben.“

Durch seine persönlichen Erzählungen wird die Geschichte für die Schülerinnen und Schüler der Katholischen Schule Altona anschaulich und lebendig. Auch in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. „Ich war zwar persönlich in der Zwangsjacke eines Soldaten, aber frei von verbrecherischen Taten“ zieht Simonsohn eine persönliche Bilanz.

„Aber ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl, die mit Flugblättern gegen die Nazis gewettert haben – das verdeutlicht schon die Tatsache, dass ich heute hier vor Euch sitze“, räumt er ein. Das Kriegsende sei ein unbeschreibbares Glück gewesen. „Wir können dankbar sein, dass wir am 8. Mai 1945 endlich Frieden bekamen, dass das Morden endlich aufhörte, dass keine Bomben mehr fielen“, erklärt Simonsohn und verdeutlicht den Jugendlichen: „Dass wir eine so lange Friedensperiode haben, das haben wir diesem Europa zu verdanken“. Er selbst habe neulich eine Pro-Europa-Demonstration auf dem Rathausmarkt besucht. Leider seien Soldaten, die das ganze Elend des Krieges mitbekommen haben, nicht vertreten gewesen.

Der engagierte Senior ermuntert die jungen Zuhörer zu eigenem Engagement. „Setzt Euch dafür ein, dass der Friede erhalten bleibt“, mahnt Simonsohn. Das habe ganz wesentlich mit gegenseitigem Respekt und solidarischem Handeln zu tun. Die mit Hass unterfütterten Aussagen der AfD, die auf dem Weg in die Nationalstaaterei sei, lehnt der Hundertjährige strikt ab.

Und er sieht dringenden Handlungsbedarf beim Entwicklungshilfeetat: „Der ist viel zu gering. Ich mache mir große Sorgen, dass wir zu wenig dafür tun, die wirklichen Fluchtursachen in Afrika wirksam zu bekämpfen“. Dies zu verändern sei nun Aufgabe der jüngeren Generationen. Zustimmend nicken die Neuntklässler der Katholischen Schule Altona. Wilhelm Simonsohn blickt abschließend in die Runde – und scheint zufrieden mit dem, was er an Gedanken in den Köpfen der jungen Zuhörer in Bewegung gebracht hat.

 

Fotos zur freien Verwendung: Wilhelm Simonsohn (100) mit Schülerinnen und Schülern der Katholischen Schule Altona. (Foto: Christoph Schommer)